Kategorie: Allgemein


  • Notizen: Vökerrecht

    Notizen: Vökerrecht
    […] es gibt nun mal Werte, die dauerhaft und unverbrüchlich sind und damit die Grundlage für eine zivilisierte Gesellschaft bilden: Völkerrechte, Menschenrechte, Grundrechte. Diese Grundwerte sind fundamental und nicht beliebig. Das wissen Juristen und Völkerrechtsexperten, die allesamt hinzugezogen wurden und werden, wenn es um den Beitritt zur EU geht.

    Und ein gemeinsames gesellschaftliches Fundament zu haben, bedeutet keinesfalls, die Eigenschaften und Stärken der einzelnen Mitgliedsländer zu schwächen oder zu negieren. Andererseits frage ich mich, durch welche besonderen Eigenschaften und Stärken sich der Ungar von mir unterscheidet, der Tscheche, der Slowake, der Slowene oder der Deutsche – um nur ein paar zu nennen?

  • Atim

    Eine der komplexesten Figuren, die ich je ersonnen habe, ist Atim Janson. Er spielt eine sehr wichtige Nebenrolle im Roman Auf dieser Frequenz. Der Roman bildet den Mittelteil der Elias-Trilogie. In dieser Geschichte wird Stefan, der beste Freund von Elias, der Hauptfigur der drei Romane, in Estland von Nationalisten entführt, um einen Pakt der baltischen Staaten zu verhindern. Atim ist einer der Entführer. Er ist der Jüngste der drei Entführer und aus der Sicht seiner beiden Freunde der Laufbursche ihrer kleinen nationalen Front.

    Zuerst sieht es so aus, als ob Atim nicht mehr wäre als ein Mitläufer, einer der mitmacht, um überhaupt irgendwo dabei zu sein. Er tut sich hervor mit harten Sprüchen und Spott gegenüber Minderheiten wie People of Color und/oder LBQT+ ohne Abstufung.

    Im Verlauf der Handlung stellt sich heraus, dass Atim eigentlich schwul ist und darunter leidet, dass er keinen Weg findet, seine Sexualität auszuleben. Er kann nicht dauernd nach Tallinn fahren, um dort nach jemand zu suchen, und außerdem ist er zu sehr gefangen in den Blut und Boden Fantasien seiner Kumpel, die ihm eine Art Nestwärme bieten, der er sich nicht entziehen kann.

    Wenn er allein ist, hört er schwere klassische Musik oder symphonische Filmmusik, aber auch Musicals, hat heimlich ein Instagram-Konto, auf dem er anzügliche Fotos von sich postet, ohne sein Gesicht zu zeigen oder gerade soviel, dass er eben nicht erkennbar ist. In ihrem Gefangenen erkennt Atim nicht nur einen Mensch von mehr Größe und Würde, als er selbst je erlangen wird, sondern auch den Mann, nachdem er sich, ohne es zu erkennen, in seinen einsamen Nächten gesehnt hatte.

    Stefan tötet Atim und kann fliehen. Er nimmt dessen Smartphone mit, entsperrt es und beginnt auf seiner Flucht, als er sich in den Momenten, wenn er sich ausruht, zu begreifen, dass er einen Menschen getötet hat, dessen Leben vielleicht verpfuscht war, aber auch unendlich kostbar, weil einzigartig. Und weil Stefan kein Hollywoodheld ist, der über Leichen geht, so wie andere tanzen, leidet er auf seiner Flucht nicht nur an Schwächeanfällen und Fieber, sondern auch am Umstand, jemand getötet zu haben, den er in einem anderen Leben vielleicht sogar gern gehabt hätte …


  • Der Trost des Mittelmaßes

    Die meisten Boulevardzeitungen haben auch Webseiten, auf denen ziemlich genau dasselbe steht wie auf den gedruckten Ausgaben. Der Fokus der Onlineversionen ist dabei auf Geschwindigkeit und Aufregung ausgerichtet. Was Onlinemedien brauchen, ist ein Konsument, dessen Dauererregung am besten mit den Worten „Das darf doch alles gar nicht wahr sein“ umschrieben wird.

    Der Verdacht drängt sich auf, dass die Medien vor allem mit ideologischen Nebelthemen aufregen wollen, die sich bestens dazu eignen, um um des Kaisers Bart zu streiten. Da kann der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Menschen deportieren und Tausende Beamte entlassen, weil sie möglicherweise ideologisch anderer Meinung sind – wenn irgendwo in Österreich oder Deutschland an einem Tag vor einem Amtshaus oder einer Kirche eine Regenbogenfahne weht, ist Feuer am Dach. Diejenigen unter denen, die sich darüber aufregen und sich für klug halten, versuchen, Gesetze zu bemühen. Andere regen sich darüber auf, dass „diesen“ Leuten so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird.

    Und meiner Meinung nach ist das des Pudels Kern: Die Leute meinen, man müsse sich ja bald dafür schämen, normal zu sein. Nein. Muss man nicht. Musste man nie. Man darf nur nicht erwarten, dass Medien, die davon leben, Aufmerksamkeit zu binden, über Alltägliches, Belangloses, Normales berichten.

    Was bleibt am Ende des Jahres in Erinnerung? Die Norm? Oder die Außergewöhnlichen? Die bemerkenswerten Modedesigner, Dichter, Maler und Komponisten, Schriftsteller und Denker sind es, deren Licht das der anderen überstrahlt. Der Alltag interessiert die Medien nicht. Und deshalb berichten die Medien auch über Regenbogenfahnen. Über Demonstranten. Klimakleber. Politiker mit verqueren Ansichten.

    Wenn User sich nun in den Kommentarbereichen von Zeitungen online darüber auslassen, dass man „denen“ viel zu viel Aufmerksamkeit schenkt, dann beklagen sie sich eigentlich nur darüber, dass sich niemand für sie interessiert. Der sittlich-moralische Unterbau der Wehklage ist nebensächlich. Sie kränken sich, dass das, worauf sie insgeheim stolz sind, nämlich auf ihre Normalität, so wenig Beachtung findet. Sie berufen sich auf die Norm und schmähen alles jenseits der Norm. Und sie bestätigen ein ums andere Mal, dass die These wohl stimmt: Die Normalität ist der Trost des Mittelmäßigen.


  • Frank Montalvo

    Diese Woche habe ich meine Webpräsenz umgestellt und den WordPress Blog auf Google Sites nachgebaut. Beim Erstellen der Seite mit den Werken habe ich mich ein wenig nostalgisch und auch etwas traurig an Frank Montalvo erinnert. Frank lernten mein Mann Richard und ich 2010 kennen, als wir im Sommer auf Kuba Urlaub machten und auf eigene Faust herumreisten, überall baden gingen, wo es uns taugte, und die fremdartige Freiheit des Lebens genossen, wie es wohl nur auf Kuba geht.

    Frank war hauptberuflich als Security in einem Industriegebiet im Norden von Havanna tätig; in seiner Freizeit trainierte er für den Radsport. Frank erzählte uns, als wir uns bei Mi Cayito kennenlernten, dass er sooft es ginge, für das Radrennen „Vuelta a Cuba“ trainierte, ein Radrennen, das jährlich im Februar stattfindet.

    Sein Fahrrad war wüst zusammengeschraubt, aber stabil. Er sagte, es sei ein echter Kubaner, aus Teilen aus Mexiko, Venezuela, Kuba und China.

    Frank inspirierte mich zur Hauptfigur einer Kurzgeschichte mit dem Titel „Der Radfahrer“. Diese Geschichte erschien in einer Anthologie mit Kurzgeschichten von mir im AAVAA-Verlag, den es inzwischen leider nicht mehr gibt.

    Wir sahen ihn dann noch öfter bis 2015. Danach, erfuhren wir, konnten wir ihn gar nicht mehr sehen, weil er 2016 die Ausreise aus Kuba bewilligt bekam und irgendwie in Florida gelandet war, wo er dann auch lebte. 2017 kehrte er zu seinem Geburtstag nach Kuba zurück, um mit seinen Freunden zu feiern, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Die Party stieg in Havanna, in der Fabrica de Arte und nach Mitternacht wollten ein paar Mädchen mit Frank noch in einem Club in Matanzas weiterfeiern. Frank, ganz Gentleman und wohl auch ein wenig angeheitert, lud die Mädchen ein, sie mit dem Mietwagen, den er am Flughafen Jose Martí ausgeliehen hatte, nach Matanzas zu bringen, um dort weiterzufeiern. Auf der Fahrt nach Osten über Land kam der Wagen wohl wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Straße ab, überschlug sich mehrmals und ging schließlich in Flammen auf. Niemand überlebte den Unfall, fünf junge Leben waren ausgelöscht.

    Von Zeit zu Zeit erinnere ich mich an Franks unverwüstliche Lebensfreude und Freundlichkeit, an seine Fähigkeit, immer nahe zu sein, ohne einem zu nahe zu kommen. An sein Lächeln und seine fast kindliche Freude, als ich ihm erzählte, dass er das Vorbild für eine Romanfigur sei.

    Goodspeed, Frank. Wo immer Du bist.


  • Digital Nomad

    Das Thema Digital Nomads hat mich schon länger interessiert und wie das bei mir so ist, schlief das Interesse ein, nachdem ich mich sattgelesen hatte. Eine Facette des Themas, die mich ermüdete, war, dass es zwischen dem 9 to 5 Job und dem Digital Nomad nichts zu geben schien in der Debatte, das erwähnenswert war. Das zweite Merkmal, das ich als ziemlich abstoßend wahrnahm: Die Pro-Digital-Nomad Leute haben allesamt das Wirken und Auftreten von Missionaren und Predigern. Was sind Digital Nomads? Im Grunde genommen Leute, die frei und ungebunden, dort leben, wo sie möchten und in scheinselbstständigen Arbeitsverhältnissen remote über Laptop, Smartphone und eine gute Internetverbindung entwickeln, designen, übersetzen, schreiben; Jobs erledigen, für die man nirgendwo vor Ort sein muss.

    Sucht man im Internet nach Informationen zu Digital Nomads, findet man auch jede Menge Fotos, die junge, schöne Menschen in instagramablen Settings zeigen. Irgendwo in Spanien, in Thailand, Bali, oder in Lissabon, auf den Kanaren. Alle tiefentspannt, jung und agil mit Laptop und einem coolen Drink neben der Tastatur mit Blick aufs Meer und Palmen. Die Settings wirken dabei zu gewollt, um Echtheit zu vermitteln, und sie stimmen auch nicht mehr ganz mit den Texten zusammen, die man zum Thema lesen kann. Dass es kompliziert sein kann, das Leben als Digital Nomad zu leben. Dass man oft tagsüber neun bis zehn Stunden arbeiten muss, um sich die über AirBNB angemietete Wohnung auf Dauer leisten zu können. Dass man im Falle einer Erkrankung keine finanzielle Kompensation hat und oft auch keine medizinische Versorgung wie da, woher man kommt. Dass man sich oft getriebene fühlt, das FOMO inhaliert, weiterzieht, nirgendwo sesshaft wird und keinen Freundeskreis aufbauen kann. Dass man sich das dann schönredet und verklärt, in dem man sich einer Community von Menschen zugehörig fühlt, die dieselben Interessen zu haben scheint.

    Selbst die Informationen, die Digital Nomads Gleichgesinnten zur Verfügung stellen, wirken und lesen sich wie Werbekataloge. Alles Hochglanz, eingebettet in Minimalist-Aesthetic.

    Und ich denke, dass ist es, was mich an einem solchen Lebensstil am meisten abschreckt: Dass etwas, das nicht mehr ist als eben eine Art zu leben, soviel Missionierung braucht, so viel Werbung, so viel Idealisierung und verkitschte Ästhetik.

    Niemand berichtet über Gehaltsausfälle, Krankheit, Einsamkeit, über Unwetter, Überschwemmungen, Internetausfälle, die Tage und Wochen dauern können. Kaum ein Wort über Konkurrenz, Einsamkeit, kein Wort über Heimatlosigkeit.

    Es gibt ein Leben zwischen 9 to 5 Job und Digital Nomad oder Backpacker. Um Hans Rosling heranzuziehen, denke ich, dass sich sogar der Großteil des Lebens der Menschen zwischen den beiden Extremen einschachtelt. Die 9 to 5 Jobs werden weniger, bieten mehr Work-Life-Balance, man arbeitet öfter und öfter von zu Hause aus, am Balkon, vor dem eigenen Pool im eigenen Garten. Man ist beruflich in Festanstellungen öfter unterwegs. Als ich für UPC arbeitete, war ich als Service Manager für das Unternehmen in Prag, Luxemburg, Zürich, Amsterdam unterwegs, habe in lässigen Lounges und Hotelhallen gearbeitet, in coolen Cafés am Wenzelsplatz oder am Ufer der Limat in Zürich. Man kann nicht mehr das Vorurteil gegen den 9 to 5 Job heranziehen, um glaubhaft die Vorteile des Lebens als Digital Nomads zu beschreiben.

    Ich kann auf der Terrasse eines Bauernhauses im Umland von Wels arbeiten, einen Radler trinken und bin kein Digital Nomad. Ich kann in der Business Lounge am Flughafen Mails lesen und beantworten und in Confluence interne Wiki-Artikel schreiben, ohne ein Digital Nomad zu sein. Es ist keine Entscheidung mehr für oder gegen, sondern ein Wahrnehmen von Möglichkeiten

    Mich schreckt nicht die Idee ab, als junger Mensch die Welt zu bereisen und zu arbeiten, wo man gerade ist, Menschen kennenzulernen und Sprachen zu lernen. Das ist wichtig und gut und richtig. Aber es braucht nicht diesen weinerlichen Pathos, mit dem versucht wird, das Leben als Nomade zu promoten.

    Mehr Fakten als Weichzeichner wäre schön. Informationen statt Selbstbestätigung.


  • Jérôme und Isabelle

    Als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war, besuchten wir im Sommer öfter die Eltern meines Vaters, die ein hübsches Haus und einen Swimming Pool an einem Weinberg hatten. Es gab dort einen Steinplattenweg, der vom Haus runter führte bis zum Ende des Grundstücks, an diesem Weg stand eine Hollywoodschaukel und auf der saßen meine beiden Brüder und ich, während die Erwachsenen auf der terrasse des mediterranen Hauses saßen, Wein tranken und erwachsenendinge besprachen.
    Diese Sommer erscheinen mir, durch den Filter der Jahre, als ganz wundervoll, weil es einfach nichts gab, das nicht passte, nicht stimmte oder nicht im Einklang war mit den Glücksgefühlen eines Jungen, der sich gerade das erste Mal verliebte, ohne es zu wissen.

    Im Fernsehen gab es damals eine Serie mit dem Originaltitel: Le jeune Fabre. Bei uns im deutschsprachigen Raum hieß sie Jerome und Isabel. Glücklicherweise ergab es sich immer so, dass die Serie am Wochenende zu einer Zeit spielte, in der ich genug vom Herumtoben und Äpfelpflücken und plantschen im Pool hatte. Vater und Großvater saßen auf der Terrasse des Hauses und Mutter war mit Großmutter entweder im Keller, um die Einmachgläsr umzuschlichten, Marmelade zu holen oder in der Küche, um irgendetwas zu tun. Das soll nicht geringschätzig klingen – es war mir einfach egal, denn ich war erschöpft vom Sommertag, es war später Nachmittag und es lief im Fernsehen Jerome und Isabel.

    Ich wusste nichts von Liebe außer von der zwischen Kind und Eltern, aber ich wusste, dass ich Jerome mochte. Dass ich gerne einen Freund wie ihn hätte und dass er mich so ansieht, wie Jerone seine Isabel in der Serie ansieht. Das ging mir durch und durch. Mein ältester Bruder Paul machte mich auf die Titelmelodie aufmerksam – musste er nicht, denn die war für mich schon längst zu meiner ganz persönlichen Schicksalsmelodie geworden: Demis Roussos: Le jeune fabre

    Ich wollte, das weiß ich jetzt, dass Jerome mich so ansieht wie er Isabel in der Fernsehserie ansieht, dass es eine geheime Vertrautheit zwischen uns gibt, die unschuldig ist und doch intensiv, sehr sehnsüchtig und schmachtend und dass seine Blicke – hätten sie einen Klang – so klingen würden wie das Lied von Demis Roussos. Ich weiß noch, dass es Szenen gab in der Serie, bei denen ich Gänsehaut von den Unterarmen bis zum Nacken hatte. Und dass mir manchmal zum Weinen war, obwohl die Szene gar nicht traurig war.

    Schwülstig? Ja, natürlich. Ich war dreizehn Jahre alt und ohne es wirklich zu verstehen, in einen arabischen Jungen in einer französischen Fernsehserie verliebt. Ich war in das Leben verliebt, in die Sommertage und Sommerabende und in die Stimme von Demis Roussos, die nach Weinbergen roch, nach Gewitterwolken und Leidenschaft.


  • Stiller Widerstand

    In Zeiten, in denen die Angriffe auf die Demokratie und auf die althergebrachten Werte der Gesellschaft immer lauter und wütender werden, ist man versucht, die eigene Lautstärke der der Angreifer anzupassen.

    Was meine ich mit althergebrachten Werten? Ich meine damit die gesellschaftlichen Übereinkommen und Gewissheiten, die das Fundament für Verfassungen bilden und uns als Zivilisation Halt bieten. Dass es Werte und Grundgewissheiten gibt, an denen man nicht rüttelt und dass die, die eben daran rütteln und herumfummeln wollen, dies nicht tun, um diese Werte auszutesten oder neu zu bewerten, sondern um sie zu zerstören. Ihr Verhalten erinnert fatal an das von Menschen, die im Schutz der Menge nach Tauben treten oder die geradezu besessen auf einem knirschenden Sessel wippen um herauszufinden, wann er endlich unter ihnen zusammenbricht.

    Welche Ideale meine ich? Dass wir einander wohlwollend begegnen. Dass wir Rücksicht nehmen, ohne uns selbst dabei allzu sehr verbiegen zu müssen. Es ist verblüffend, aber viel von dem, was man früher als „Gentlemen Agreement“ eingeordnet hat, steht heute als Menschenrecht oder Grundrecht festgeschrieben und in den meisten Fällen bauen die Verfassungen vieler Länder auf diesen Grund- und Menschenrechten auf.

    Der scheinbare Diskurswille von Menschen, die an diesen Gewissheiten rütteln und sie aufkratzen wollen, ist Heuchelei. Sie wollen der Gesellschaft einen Diskurs über ihre eigenen Grundwerte aufzwingen und dann, wenn es zum Diskurs kommt, die Leute damit brüskieren, dass sie sich darauf eingelassen haben. Das Lieblingsmotto dieser Zerstörer ist: Man muss über alles reden können! Nein, muss man nicht. Man muss nicht über jeden Blödsinn reden nur, weil sich sonst irgendwer in seiner Meinungsfreiheit beschränkt fühlen könnte. Und nein, man muss nicht jedem dahergelaufenen Provokateur Aufmerksamkeit widmen, weil er uns sonst vorhält, wir würden den Diskurs mit ihm verweigern. Ja, ich sehe es als mein verdammtes Recht auf Meinungsfreiheit an, mich nicht mit den Meinungen von Menschen befassen zu müssen, die nur Zerstörung, Gewalt und Zynismus im Kopf haben und sonst nichts zum Wohl der Gesellschaft beitragen.

    Dazu gibt es ein Zitat des Vordenkers der Neuen Rechten, Götz Kubitschek:

    Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party

    Ein großer Teil dieser erbitterten Debatten hat sich in die sozialen Medien verlegt, und, man soll es nicht glauben, in die Kommentarspalten von Online-Boulevardzeitungen, deren Artikel oft nur noch als Stichwortgeber für wütende Kriege dienen.

    Wie kann man all dem begegnen, wenn man nicht das Format, die Wut und den Willen hat, 24/7 online für das Gute zu streiten, für das Richtige, für Grund- und Menschenrechte? Wenn man nicht dazu geschaffen ist, sich all dem geballten Hass zu stellen, der Abgefeimtheit, wenn einem die Stimme versagt, wenn man weiß, dass man niemals laut genug sein kann, um sich Gehör zu verschaffen?

    Auf News verzichten und sich einer vampiresken Diskussionskultur entziehen, so wie das Rolf Dobelli vorschlägt. Durch den Konsum und die Reaktion auf News gewinnt man nichts. Keine Informationen, bessere Entscheidungen zu treffen, keine Erkenntnisse, die wichtig sind.

    Sich generell aus den sozialen Netzwerken zurückziehen. Gerade jetzt, wie man rund um die Wiederwahl von Donald Trump sieht, sind die Broligarchen-Freunde von Trump drauf und dran, die Meinungsfreiheit zu zerschießen, in dem sie sie in eine Travestie verwandeln. Da muss man nur lesen, wie sich Zuckerberg über Wokeness äußert und was Musk auf seiner hauseigenen Plattform X so postet.

    Eine Art Repatriation weg von den ausgelagerten Meinungsstätten wie X, Tiktok, Instagram, Facebook, RedBook und wie sie alle heißen, und hin zu offenen Standards wie Fediverse oder noch besser, wieder bloggen und sich mit anderen Bloggern vernetzen. Keine Limitierung der Zeichen, keine Zensur, kein Algorithmus, der einen begräbt oder ghosted. Repatriation ist im Übrigen ein Trend großer Unternehmen, ihre eigenen IT-Lösungen nach einem Cloud-Rausch wieder selbst zu hosten. Einer der Vorreiter ist das australische Unternehmen Fastmail.

    • Schreibt Kurzgeschichten und Romane, so gut es geht und umgeht bei Eurer Öffentlichkeitsarbeit konsequent alle Booksta* Plattformen, die sich auf großen Socialmedia-Plattformen etabliert haben.
    • Geht den Weg über Verlage und schlagt einen Haken um Grossisten wie Amazon, so gut es geht. Ich weiß, dass widerspricht dem Wunsch, von möglichst vielen Menschen wahrgenommen werden zu können. Oder veröffentlicht im Selbstverlag, wenn Ihr die Mittel dazu habt
    • Unterstützt eher Startups und kleine Anbieter. Lasst Euch nicht einreden, Meinungsfreiheit sei untrennbar mit Reichweite verbunden. Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht, und Grundrechte binden stets nur den Staat. Hat mir Reichweite genau gar nichts zu tun.
    • Hört auf, so streamline zu sein. Seid bockig, nehmt eigene Wege, seid bereit zu glauben, aber glaubt nicht alles.
    • Man kann ungehorsam schreiben. Man kann Bücher und Geschichten, Glossen und Essays schreiben über Menschlichkeit, Würde und zivilen Ungehorsam. Man kann Menschen am Rand der Gesellschaft thematisieren …

    All das wird Euch vielleicht nicht berühmt machen oder gar reich. Aber Ihr helft dabei mit, den Kanon der Menschlichkeit nicht verstummen zu lassen. Sollen die verbiesterten Infowarriors doch an ihrem eigenen Gift auf den großen Socialmedia-Kanälen dahinsiechen; freidenkende Menschen und Alternative waren schon immer gut darin, die Konformität links liegen zu lassen und sich eigene Wege zu suchen. Man muss nicht dort sein, wo alle sind, und mit denen gemeinsam in ihrem eigenen Sumpf baden.

    Vielleicht sollten wir alle wieder ein bisschen mehr verträumte Kiffer und Genussmenschen sein, als endoptimierte Drohnen, einsame Spaziergänger, als Herdentiere, Denker sein, statt massentaugliche Mitläufer. Dafür gibt es vielleicht weniger Likes aber mehr Leben.


  • Soziale Erschöpfung

    Das Problem

    Auf Bluesky oder X kann man immer öfter lesen, dass die Menschen ausgelaugt sind, sich erschöpft fühlen von all dem, was sie Tag für Tag in ihre Timeline gespült bekommen: menschliche Grausamkeit, politische Infamie, geostrategische Neuausrichtungen, Vertragsbuch, Gemeinheit, Sadismus und Grausamkeit. Alles scheint den Halt zu verlieren, ins Rutschen zu kommen. Es gibt keine Gewissheit mehr, alles ist glitschig und unzuverlässig geworden – so scheint es, wenn man die News verfolgt oder den Social-Media-Algorithmus durch Likes und Lesedauer konditioniert hat. Dabei wollte man doch nur mit der netten Gesellschaft der letzten Geburtstagsparty in Kontakt bleiben, mit der netten Vermietern der Ferienwohnung in Madrid, mit der laut grölenden Partie, mit der man am Strand von Mi Cayito gefeiert hatte. Aber der Radclub. Mein Fischereiverband! Der Reit- oder Fußballclub! Man möchte ja in Kontakt bleiben und kaum ist man auf einer dieser Plattformen wie Facebook, spült es einem schon ungefragt die schlechten Nachrichten in die Zeitleiste und die Leute hauen Dir die üblen Nachrichten mit diesem „Hast Du schon gesehen?“ – Teaser über den Zaun. Na und auf X und Instagram erst.

    Man wollte ja nur socializen, oder?

    Auch auf den eher angenehmen Plattformen wie eben Bluesky oder irgendeiner der zahlreich und gut gewarteten Mastodon-Instanzen, geht es den Leuten auch nicht so gut. Das sind die Nachrichten, die man bekommt. Entweder aus der seriösen, professionellen Presse oder aus den unzähligen Medienkanälen, die filterlos schreiben und behaupten, was auch immer sie wollen, wie sie wollen und in welcher Intensität sie das wollen. Und sie wollen immer laut, alarmistisch und furchterregend.

    Dann tauscht man sich über die Nachrichten aus und erkennt immer und immer wieder, dass man mit diesen Informationen nichts anfangen kann, außer sich zu ärgern, zu fürchten, zu kränken. Die Frage stellt sich mir dann schon seit geraumer Zeit: Warum tu ich mir das an? Welche Erkenntnisse ziehe ich aus diesen Nachrichten? Wie helfen sie mir dabei, in meinem Leben kluge und klügere Entscheidungen zu treffen? Welchen Wert haben Nachrichten, die nur noch betrüben, verängstigen und entmutigen? Um mitreden zu können? Und um dabei noch verdrießlicher zu werden?

    Ein Lösungsansatz

    Ray Bradbury schrieb in seinem Buch Zen in der Kunst des Schreibens von der Begegnung mit einem mexikanischen Bauer auf seinem Feld irgendwo in Mexiko: Wenn Sie einmal wirkliche Poesie hören wollen, dann hören Sie einem mexikanischen Bauer zu, der über seine Arbeit spricht.

    Das löst in mir eine ganze Kette von Gedanken aus, die allesamt erfreulich einfach sind und doch befriedigend:

    • Erfüllung finden in einfacher, harter Arbeit
    • In der Natur arbeiten
    • Stille um einen herum
    • Lieben was man tut
    • Nichts von Socialmedia wissen
    • Oder keinen Bezug dazu haben

    Ich will das Leben eines mexikanischen Bauern nicht verklären, allein schon deshalb, weil ich keinen blassen Schimmer von der Arbeit habe. Und schon gar nicht von einem in den Vierzigern des vorigen Jahrhunderts, als Bradbury durch Mexiko reiste. Doch das Beispiel von Bradbury unterstützt für mich dann doch eine Kette von Rückschlüssen, die zumindest auf poetischer Ebene funktionieren.

    In Zeiten wie heute, da wir lernen, dass die USA und Russland keine verlässlichen Partner (mehr) für uns Europäer sind, ist es sowieso angezeigt, auf Open Source Lösungen umzusteigen, auch, wenn man dadurch viele Kontakte hinter sich zurücklässt. Für wichtiges gibt es ja noch immer Telefon und E-Mail (Mail auch über einen EU-Anbieter).

    Und natürlich kann man sich die Frage stellen, ob es wirklich notwendig ist, über alles zu jeder Zeit und mit jedem kommunizieren zu müssen. Ich kann mich erinnern, dass meine Eltern in der ersten Wohnung nur ein Vierteltelefon an der Wand hatten, und das schien zu genügen. Natürlich muss man das nicht verklären. Aber die Frage steht nun mal im Raum: Was nützen mir all die modernen Informations- und Kommunikationsmittel, wenn sie mich unzufrieden, traurig und rank machen? Und süchtig nach noch mehr Entmutigung, Angst und Verzagtheit?

    Nein, nicht die Kommunikation aufgeben. Aber selektiver werden in der Frage: Mit wem möchte ich mich über welches Thema austauschen? Und wie?

    Vor gar noch nicht allzu langer Zeit war die Privatheit das höchste Gut eines Menschen und Existenzgrundlage neben einem sicheren Beruf, einem Dach über dem Kopf und Liebe.

    Vor zehn Jahren auf einmal die Kehrtwende: Ist es nicht auf Facebook, ist es nie geschehen.

    Muss das sein? Ich meine, ich frage mich das selbst, weil ich ja zum Teil auch noch auf Socialmedia bin (Bluesky). Vielleicht können wir uns neu orientieren? Den gepflegten Rasen der US-ansässigen Socialmedia-Plattformen verlassen und in die Wildnis ziehen?


  • Selfpublisher und Marginalisierung

    Auf Bluesky gab es unlängst einige Beiträge zum Thema, dass Selfpublisher bei Literaturpreisveranstaltungen kategorisch von der Teilnahme ausgeschlossen werden. Dazu schreibt ein(e) User(in):

    Jedes Mal, wenn ich wieder sehe, wie #selfpublisher kategorisch aus Literaturpreisen ausgeschlossen werden, möchte ich kotzen. Im Strahl, vor die Füße der Leute, die sowas beschließen. Wie kann man so stehen geblieben sein?

    Und bekommt Zuspruch:

    Sehe ich absolut genauso. Es werden damit auch ganz gezielt marginalisierte Stimmen an den Rand gedrängt, die aus reinem Kalkül auch keine Verlagsverträge bekommen, weil ‚verkauft sich ja nicht‘, selbst wenn das nicht der Wahrheit entspricht

    Ich habe mit dieser „Denke“ so meine Probleme. Für mich sind Verlage nach wie vor die, die meinen Roman zu einem Buch machen. Aus großer Flughöhe betrachtet und ohne zu berücksichtigen, in welcher Qualität die Bücher hergestellt werden. Aus meiner Sicht gehört zu den Aufgaben des Verlags:

    • Das Buch vorzufinanzieren
    • Das Manuskript zu lektorieren und korrigieren
    • Das ganze Buchdesign, Covergestaltung
    • Werbung, Marketing insgesamt

    Selfpublishing ist eine Methode, einerseits selbst für all diese Aufgaben verantwortlich zu sein, wenn man das mag, oder durch Hinzukaufen einzelner Dienstleistungen die Regie über die Entstehung und die Außenwahrnehmung des eigenen Werkes zu führen. Man kümmert sich selbst um:

    • Lektorat, Korrektorat
    • Buchsatz, Bindung
    • Coverdesign

    oder man bezahlt für die Leistungen externer. Und damit komme ich zum Thema Marginalisierung zurück. Die allgemeine Haltung von Autoren, die ihre Werke im Selfpublishing anbieten, ist, dass Selfpublisher vom Buchmarkt marginalisiert werden, weil:

    Das bezieht sich nicht auf eine Art von Literatur, sondern auf Menschen, die Narrative mitbringen, die sich nicht nahtlos in den kapitalistischen Mainstream einfügen und/oder ihre Leserschaft durch Social Media ect. schon mitbringen

    Das ist mir zu abgehoben. Vor allem verklärt es den Umstand, warum es Autoren nicht schaffen, in herkömmlichen Verlagen zu veröffentlichen. Es gibt gerade in Deutschland unzählige Klein- und Mittelverlage, die gerne neue Literatur veröffentlichen. Eine Begründung, doch als Selfpublisher zu veröffentlichen, ist, dass die Kleinverlage alle auf Jahre das Programm voll haben. Andererseits bedeutet das aber auch, dass die Verlage eben junge Autoren unterstützen und fördern und deren Werke verlegen.

    Mir kommt manchmal vor, dass die in den Raum gestellte Marginalisierung von Schriftstellern durch den Literaturbetrieb sehr oft auch als Ausrede dient, nicht veröffentlicht worden zu sein. Extrembeispiel: Junger, schwarzer, schwuler/transgender Autor möchte in einem herkömmlichen Verlag veröffentlicht werden und scheitert. Um sich die Wunden zu lecken (und es tut jedem Schriftsteller weh, nicht genommen zu werden. Jedem), stellt er in den Raum und begründet das auch vor sich selbst, damit, dass er wegen seiner Hautfarbe, seinem Alter, seiner Sexualität, nicht angenommen wurde. Veröffentlicht er nun als Selfpublisher und hat ein wenig Talent in Sachen Marketing und ist vielleicht auch noch sehr hübsch, kann er durchaus Erfolge erzielen. Für ihn und die anderen Selfpublisher scheint klar, dass die Verlage ihn wegen seiner Hautfarbe/Sexualität/Alter/Geschlecht/wasauchimmer marginalisieren und sein Erfolg als Selbstveröffentlicher dies nun entlarvt.

    Ich meine, wie viele hübsche Mädchen und Jungs haben es schon geschafft, dass ihre Romane gedruckt werden, obwohl sie völlig talentlos sind, weil sie eben jung und hübsch waren?

    Und wenn das mit dem Marginalisieren wirklich so ist, werde ich dann auch marginalisiert? Von der Literaturwelt geghostet? Gecancelt, weil ich ein alter, schwuler, weißer Mann bin, der schwule Romane schreibt?

    Und marginalisiert das Selfpublishing letztendlich nicht auch alle, die sich den finanziellen Aufwand nicht leisten können oder leisten wollen? Das ist ja alles summa summarum nicht billig.

    • Lektorat und Korrektorat: ~ 3000 Euro
    • Sensitivity Reading: ~ 4500 Euro
    • Buchsatz, Cover, Design: ~ 6150 Euro
    • Druck: ~ 6850 Euro

    Ein Buch selbst verlegen zu können (und dabei nicht massenhaft Geld zu verlieren) ist ein Privileg, das viele Menschen nicht haben. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die meisten selbstverlegten Bücher Verlust machen, bis sich die Autor*innen eine eigene Leserschaft aufgebaut haben. Aber bis dahin können locker zwei, drei oder deutlich mehr Bücher vergehen! Das muss man sich leisten können.

    Das ursprüngliche Thema war aber, dass Selfpublisher allem Anschein nach von Literaturpreisveranstaltungen prinzipiell übersehen werden. Mir stellt sich dabei die Frage, woher die Veranstalter von Literaturpreisen von den Werken der Selfpublisher wissen sollen? Meines Wissens reicht ein Verlag das Werk eines ihrer Autoren bei einem solchen Literaturpreis ein. Das macht nicht der Autor selbst. Würden Literaturpreisveranstalter das zulassen, wie viele Hunderttausende Bücher bekämen sie als Einsendungen?

    Und wieso geht man in der Selfpublisherszene davon aus, zwar am Literaturbetrieb vorbeiveröffentlichen zu müssen, als freier und selbstverantwortlicher Autor, andererseits aber dann doch den Wunsch zu haben, von ebendiesem Literaturbetrieb wahrgenommen zu werden?


  • Schwule Literatur

    Ich schreibe schwule Literatur. Also ich meine, ich schreibe auch schwule Literatur. Und wenn ich mich ganz aus diesen Zuschreibungen zurückziehen will, sage ich einfach, ich schreibe Romane. Man könnte das so zusammenfassen: Ich schreibe Romane, die in schwulen Verlagen in Deutschland erscheinen.

    Als mein Gedichtband „Alles besser“ 1998 im Männerschwarm Verlag erschien, las ich einmal, dass es in Literaturdiskussionen hin und wieder die Frage aufgeworfen wird, ob und welche Existenzberechtigung schwule Literatur als Gattung im Literaturkanon eigentlich hat, und eine Antwort darauf war: „So lange es einen Platz für jüdische Literatur gibt, und zwar mit Fug & Recht, so lange gibt es auch einen Platz für schwule Literatur – mit Fug & Recht.“

    Das klingt schlüssig, erklärt aber nicht, was schwule Literatur im Grunde genommen ist. Muss es da immer um Liebe gehen? Zwischen Jungs? Oder zwischen Erwachsenen oder – huch – zwischen alt und jung? Müssen die Protagonisten schwul sein? Muss Sex vorkommen?

    Und ist ein Roman über zwei schwule Dunkelelfen eigentlich noch ein schwuler Roman oder schon Dark Fantasy mit schwulen Szenen?

    Oder genügt es, dass die Story gayfriendly ist, so wie viele Hotels auf Trivago oder einem anderen Portal als #gayfriendly getagged werden?

    Oder anders: Müssen die schwulen Charaktere in den Stories immer gut sein? Oder dürfen das auch mal richtige Arschgeigen sein? Oder dumm und geschmacklos?

    Ich habe für mich den Zugang gefunden, dass es darauf ankommt, wie stark der Fokus des Erzählers auf schwule Facetten gerichtet ist. Der Blickwinkel. Bei mir ist es ja so, dass die handelnden Personen unter Umständen gar nicht schwul sind, aber auch kein Problem damit haben, wenn es mal dazu kommt. Auf Kuba hat mir ein kubanischer Student in einer trunkenen Nacht unter dem Mond von Havanna gesagt, man nenne die Bereitschaft, auf beiden Seiten des Ufers zu fischen, sexuell liquid zu sein. Man fließt und nimmt mit, was sich mitnehmen lässt und was taugt.

    Das halte ich generell für eine sehr Weise und freundlich. hedonistische Sichtweise. Kritiker beschreiben manchmal, meine Figuren stünden sexuell ständig unter Strom. Ich sehe es ein wenig anders – natürlich. Meine Figuren hadern nicht mit ihrer Sexualität noch hadern sie mit sich selbst. Ich habe mich nie in der Lage gesehen, intensiver über Menschen zu schreiben, die von sich selbst über die Maßen herausgefordert werden. In meinen Romanen werden die handelnden Personen von allem möglichen herausgefordert und bedrängt, in Angst und Schrecken versetzt, nicht aber von ihrer eigenen Sexualität. Deshalb fallen bei mir in so ziemlich allen Romanen die Versatzstücke „üblicher“ schwuler Literatur weg: Erste Liebe, Coming out. Wie man in meinem neuesten Roman Piero X lesen kann, romantisiere ich auch nicht junge Schwule: Piero ist nur am Anfang verwirrt und dass man ihm die Verwirrtheit bis weit über die Mitte des Romans abkauft, ist seinem verschlagenen Schatten anzurechnen.

    In Auf dieser Frequenz wird ein junger Schwarzer in die Situation gebracht, dass er sich mit einem seiner Entführer, einem jungen Esten, auf Sex einlässt, um eine Situation zu schaffen, die ihm die Flucht aus der Gefangenschaft ermöglicht. Was mich an der Szene interessiert hat, war, wie zwei Menschen aneinander vorbei empfinden. Die Gefühlswelt auszuloten, zwischen zwei Menschen, die sich aufeinander einlassen, auch unter widrigsten Umständen, das hat mich immer interessiert.

    Aber nochmal: Was ist schwule Literatur? Wenn zwei Typen sich ineinander verlieben, Sex haben? Oder ist es einfach das schlüpfrige Setting, wenn es denn schlüpfrig ist? Ist es denn wert, hervorgehoben zu werden, dass es im Roman (auch) Schwule gibt?

    Wenn ich der Prämisse folge, dass in einem Roman nichts drin stehen soll, das nicht dazu beiträgt, die Geschichte voranzutreiben und besser verständlich zu machen, wenn man die Anteilnahme der Lesenden fordern und fördern will, dann ist ein schwuler Roman dann wohl der, in dem das schwule Element kein Beiwerk ist, keine Dekoration, Staffage, sondern untrennbar mit der Geschichte verwoben, die erzählt wird.

    Wenn man durch die Art der Geschichte darauf hinweist, beleuchtet und unterstreicht, dass es schwule Liebe gibt. Dass Liebe und Sex sich über die Geschlechter erheben, auch wenn wir in einem sprachlichen Gefängnis zu leben scheinen, das Sex in ein normatives Korsett zwängt.

    Mit ein wenig líquido sexual kann man wie Wasser aus diesem Sprachgefängnis fließen. Das versuche ich mit jedem Buch, das ich schreibe, aufs Neue.