Mastodon. Oder: Die Kathedrale und der Bazar

Wenn Leute den ganzen Tag, 24/7 darüber reden, dass man ihnen die freie Meinungsäußerung verbieten will, dass sie von linken Seilschaften und Geheimbünden verfolgt werden, dass man nicht mehr sagen kann, was ist, dann äffen sie einerseits die Pose von Thilo Sarrazin nach, der sagte: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, so als ob ihm jemand verboten hätte, etwas Bestimmtes zu sagen.

Oder, sie versuchen, das Banale, Austauschbare und Beliebige, das sie sagen und meinen, mit Bedeutung aufzuladen, in dem sie sich selbst und ihr Recht, sich auszudrücken, als gefährdet hinstellen. Dieses Jammerlappentum ist auf Twitter sehr weit verbreitet, und ganz besonders bei den Rechten, aber auch bei sehr sendungsbewussten Linken schwingt unter jeder geposteten Banalität mit: „Lest meine Texte, solange Ihr noch könnt! Ich werde gejagt. Man will mich verhindern! Damit ich Euch nicht mehr die Wahrheit sagen kann! Die ganze Wahrheit!“

Das klappte einst auf Facebook ganz gut und funktioniert jetzt auf Twitter. Natürlich ist jede Plattform letztendlich nur eine technische Lösung für menschliche Kommunikationsbedürfnisse, und natürlich kann jede Plattform mit Bedeutung aufgeladen und mystifiziert werden. Einzelne Bedeutungsträger wie Donald Trump oder Elon Musk bestimmen weit über ihre eigentliche gesellschaftliche Bedeutung hinaus den Diskurs um und auf solchen Social-Media-Plattformen und vergiften das Klima dort so lange, bis allen, die dort sind, das vergiftete Klima als Status Quo erscheint – also eh alles bestens.

Ich weiß nicht, ob die Leute das so wollten; diese Gewichtung der Meinung auf einzelne Meinungsanführer, ob links oder rechts – Twitter machte sich durch diese Form der Meinungsverteilung durch den genutzten Algorithmus absichtlich oder unabsichtlich zu einer Kathedrale der Meinung – sie bedeutet mehr als Fakten und Wissenschaft, es ist wichtiger, etwas zu meinen als etwas zu wissen. Deshalb ist Mastodon so verführerisch für Menschen wie mich: Es ist neu, das Meinungsgewicht ist verteilt, eine gute Zeit lange kann es funktionieren, dass man sich dort in den Bazar einfügt, die Verhaltensregeln neu erlebt und lernt. Twitter wirkt gegen Mastodon abgegriffen und schäbig, der Bazar erstrahlt hell in der Dämmerung, wirkt einladend und vielfältig.


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